In der Bibel gibt es im Lukasevangelium im Kapitel 13
die Geschichte der Heilung einer verkrümmten Frau, die im Laufe von 18
Jahren so krumm geworden war, dass sie sich schließlich überhaupt nicht
mehr aufrichten konnte. Verursacht wurde das Gebrechen durch einen "Geist
der Schwachheit". Es war an einem Sabbat, dem Tag der Ruhe, als Jesus ihr
die Hände auflegte und eine solche Kraft in dieser Frau erzeugte, dass sie
sich aus ihrer zusammengekrümmten Haltung wieder aufrichten konnte.
Was war passiert? Die Frau erlebte die Kraft der Ruhe und zugleich eine
neue Aktivität in ihrem Sich-Aufrichten. In der Heilungsgeschichte ist die
Dynamik von Ruhe und Aktivität ausschlaggebend. Das ist kein Zufall, denn
diese Dynamik durchzieht die ganze Bibel. Das erste Tätigkeitswort in der
Hebräischen Bibel, die wir das Alte Testament nennen, lautet "schaffen".
"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Im Hebräischen heißt "schaffen"
Bara. Dieses Wort bedeutet: Etwas in Bewegung setzen, schöpferisch
gestalten, etwas aufbauen. Dieser Schaffensprozess durchzieht die
Geschichten des Alten wie des Neuen Testaments. Am siebten Tag - jedoch -
ruhte Gott. Die Schaffensprozesse münden in Ruhe, dem entgegengesetzten
Pol der Dynamik. Es handelt sich hier um das Verb Schabat : Ruhen. Daraus
ist Schabbat geworden, der Sabbat. Alles kehrt zu einer ursprünglichen
Ruhe zurück. Zwischen den Polen fließt die Energie ständig hin und zurück.
Unser Leben besteht einerseits aus Aktivität und positiver Energie.
Aber daraus alleine können wir nicht existieren. Auf der anderen Seite
bedürfen wir in jedem Moment der Ruhe, so dass wir schließlich sagen
können: Ich ruhe in mir selbst. "Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am
Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag." Der das gesagt hat, Dietrich
Bonhoeffer, war nicht ein Mann, der die Hände in den Schoß gelegt hätte.
Im Gegenteil: Er war ein Aktivist. Aber er hatte auch die innere Ruhe,
sonst hätte er die schwere Zeit im Gefängnis als politischer Gefangener
der Nazis nicht solange durchstehen können.
Leben pulsiert im Rhythmus von Spannung und Entspannung, nicht allein
äußerlich, auch innerlich: Unser Wohlbefinden hängt ab vom Zusammenklang
erregender und beruhigender Funktionen des Nervensystems. Jeder Missklang
wird vom Körper als Unruhe registriert und bei weiterem Fortschreiten vom
Arzt als vegetative Störung diagnostiziert. Auf die eine oder andere Weise
leidet jeder zweite Mensch in den modernen Gesellschaften unter
vegetativen Störungen. Dies hängt ganz offensichtlich damit zusammen, dass
Menschen sich nicht mehr mit dem begnügen und an dem freuen können, was
sie haben. Trotz allem Reichtum, den es in den großen Industrienationen
gibt, scheinen die Menschen eher unglücklich als zufrieden zu sein. In den
Straßen sehen sie aneinander vorbei, und sie misstrauen sich an den
Plätzen ihrer Arbeit. Ihr Leben geht an ihnen vorüber, erscheint vielen
als perspektivlos und sinnentleert. Desorientierung und Verzweiflung
breiten sich aus - psychische Armut mitten im Reichtum. Mancher erkennt,
auf welchem Holzweg er ist, wenn er im Dickicht menschlicher Verstrickung
endet. Mancher erkennt, dass die Jagd nach immer mehr und mehr, der Kampf,
jeder gegen jeden, das Gleichgewicht von Aktivität und Ruhe völlig
durcheinander gebracht haben. Dabei sind die Verhältnisse so aus den Fugen
geraten, dass es völlig aussichtslos zu sein scheint, sie wieder ins Lot
zu bringen. Maßloser Konsum zerstört unsere Umwelt und verschwendet die
Ressourcen der Erde.
In der Ruhe liegt die Kraft! Würden beispielsweise alle Menschen auf
der Welt ihren jeweiligen Energieverbrauch um die Hälfte reduzieren, so
würden sich im Verhältnis zur Summe dieser Anstrengungen die natürlichen
Gattungen und die Erdatmosphäre nicht einfach nur um das Doppelte erholen.
Weit mehr als das würden alle natürlichen Prozesse auf ganz neue Art und
Weise wieder zu pulsieren und zu fluktuieren beginnen. Vielleicht käme es
zu einer regelrechten Auferstehung der gefallenen Natur. Mit den Menschen
würde sie sich wieder aufrichten wie die verkrümmte Frau in der biblischen
Heilungsgeschichte.
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