Aufbruch aus dem Todesschatten


Im Sucher der Kamera betrachte ich die Gruppe, als hinter mir jemand Fremdes fragt: "Für welche Modezeitschrift arbeiten Sie?" In dem Moment sehe ich, wie gelöst die Gesichter der Frauen unter ihren Strohhüten sind. Doch gegen den Anschein ist das Leben der Frauen, die sich an einem Strand der Costa Brava zum Foto gruppieren, bedrückt von Trauer und Leid, manchmal eingeschnürt von auswegloser Depression.

Vor drei Jahren entstand die Idee, Witwen und Witwer, denen der Verlust des Lebenspartners gemeinsam ist, zusammenzuführen. Aber es wurde viel mehr daraus: Die Gruppe behandelte biblische und alltagsweltliche Themen, sah sich Filme an und machte Ausflüge. Einige Frauen und Männer luden die Gruppe, die inzwischen auf über zwanzig Personen angewachsen war, zu Kaffee und Kuchen oder zu einer gemütlichen Grillrunde an einem lauen Sommerabend ein. Kleinere Untergruppen und Freundschaften bildeten sich. Es erstanden auf neuartige Weise Gemeinschaft, Vertrautheit und Nähe. Es geschah auf fast geheimnisvolle Weise eine Öffnung von Raum und Zeit im Loslassen der gewohnten Umgebung und Tagesabläufe, was in bestimmten, manchmal sehr schmerzlichen Lebensabschnitten nötig ist, um zu überleben und zu leben. Besonders haben das die Frauen und Männer der Gruppe gespürt, die - und es geschieht nun schon zum zweiten Mal - eine große Fahrt nach Spanien unternommen haben. Besonders hier in einem anderen Land und unter zunächst unbekannten Menschen keimt das Gefühl eher auf, dass mit einem Neues geschieht. Es sind neue Schritte in alten Spuren, weil man ja auch viel Bekanntes, zum Beispiel das Singen von Liedern, das Erzählen von Erinnerungen, miteinander macht. Aber es entstehen auch neue Schritte, die neue Spuren verur-sachen: Besonders die älteren Frauen erleben Landschaften, Kulturen, Lebenszusammenhänge, die ihnen früher völlig fremdartig waren. Und nun spüren sie, dass auch in der Fremde Menschen leben, die ähnlich leiden wie sie, aber auch das Glück verspüren können, das Gott ihnen tagtäglich schenkt.

Trauer gehört zu unserem Leben als die natürliche Antwort auf Trennung und Tod. Aus Trauer wird kann Depression werden durch die Ansammlung trauriger Ereignisse im Laufe der Zeit. So wie Steine, die sich vor uns Menschen aufbauen, zu schwarzen Granitplatten werden, die wachsen und wachsen - übermenschengroß -, so dass am Ende nur noch das Schwarze überwiegt. Das ganze Leben ist schließlich überschattet von diesen schwarzen Steinen. Steine, die sich aufreihen wie übergroße Dominosteine in einer langen Reihe, labyrinthhaft, und wo sich der Mensch, der nun zwischen diesen Steinen existiert, nur deswegen aufrechterhalten kann, weil er immer noch hofft, dass ein Weg hinausführt aus dem Labyrinth, durch die Lücken zwischen den aufrecht stehenden Dominosteinen. Man möchte hindurchschlüpfen! Und wenn er hindurchkommt, wird er glauben, er wäre auf Wolke "Sieben". Doch oft genügt ein kleiner Anstoß, um die riesengroße Dominokette ins Wanken geraten zu lassen, die ganze Kette bricht ineinander. Es gibt keinen Ausweg mehr aus dem Labyrinth der Verzweiflung. Der Raum ist geschlossen. Der Mensch befindet sich im Dunkeln, im Schatten des Todes, - so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Begriffs für "Finsternis" in Jesaja 9,1.

Was wird der Mensch versuchen, wenn er überhaupt noch die Kraft hat, etwas zu unternehmen? Er wird versuchen, die Steine beiseite zu schieben, um zu entkommen. Doch der Versuch wird vergeblich bleiben. Der Einzelne allein kann es nicht schaffen. Er bedarf der Hilfe. "Gott hilf mir!", hören wir ihn flehen. Doch warum verhallt ein solches Rufen nach Gott so oft ungehört? Braucht auch Gott Verbündete? Ja, er braucht sie; und um dies aller Welt zu demonstrieren, hat Jesus gelebt. Gottes Hilfe kann nur wirksam werden in Verbindung mit einer menschlichen Gemeinschaft in Christus. Nicht nur als professionelle Helfer, sondern als Menschen, deren assoziatives Verhalten zu ihrer selbstverständlichen ethischen Ausstattung gehört. So wie Jesus, der eben kein Star-Therapeut war - Jesus Christ Superstar -, sondern nur der schlichte Menschensohn an unserer Seite. Die Menschen spürten: Darin flammt der Geist Gottes auf, und der sprengt ihre inneren Gefängnisse. Keiner braucht mehr den schweren Granitstein nach oben zu stemmen, da können sie sich an die Hand fassen und den Weg gemeinsam finden aus dem Labyrinth der Verzweiflung. Hilft Gott, so helfen auch die Menschen, und fast möchte man sagen, das gilt auch im tiefen Glauben umgekehrt: Helfen gläubige Menschen, hilft auch Gott. Das ist die lebendige Verbindung, die zwischen Gott und den Menschen besteht. Die Wege aus dem Labyrinth sind vorgezeichnet. Es sind Wege des Lebens in der menschlichen Gemeinschaft, wenn wir uns die Hände untereinander reichen können und die ausgestreckte Hand Gottes ergreifen. Dann wird mancher Stein zur Seite geschafft, und der Weg in den offenen Raum ist frei.

Wir haben dort im Norden Spaniens, genauer gesagt in Katalunien, in einem ganz kleinen Dorf von 1800 Einwohner gelebt. Dieser Ort hat eine große, sehr alte katholische Kirche. Mittlerweile sind wir gut bekannt mit der Gemeinde dort, und der katholische Pfarrer hat uns sehr freundlich eingeladen zu kommen. Innerhalb des Gottesdienstes haben die Frauen und ich einige Lieder der dortigen Gemeinde vorgesungen. Später bin ich gebeten worden, am darauf folgen-den Sonntag in dieser Kirche in spanischer Sprache zu predigen.

Es entspricht unserer Thematik von Neuaufbruch und Raumöffnung, was der katholische Pfarrer in seiner Predigt sagte, wobei er zeitweilig aus der katalanischen Sprache umstellte in die spanische, - wohl damit ich es auch verstehen konnte: "Die Christen in Deutschland, die evangelische Kirche in Deutschland hat uns Katholiken eine Lektion erteilt." Dabei nahm er die Bibel in die Hand und sagte: "Das steht in der Mitte, das Wort ist die Mitte und darum sind wir alle Schwestern und Brüder, ob evangelisch oder katholisch." Er hat es nicht gesagt, aber so wie ich ihn kenne, hat der wohl auch gedacht: Es ist nicht der Papst, der in der Mitte steht, sondern das Wort Gottes, unser Freund Jesus Christus, der der Herr der Kirche ist, einer Kirche ist. Dann sagte er noch: "Da gab es einen Deutschen, der hieß Martin Luther, der hat das endlich mal übersetzt, damit die Menschen es in ihrer Landessprache verstehen konnten, das, was in der Mitte steht."

In diesem Zusammenhang sprach er von Franco, dem Diktator, damals in Spanien, der die katalanische Sprache verboten hatte. Wer von 1939 an Katalan sprach oder die katalanischen Tänze, die Sardarnas, tanzte, und dies die Polizei, die Guardia Civil mitbekam, der wurde von der Stelle weg verhaftet; so streng war es verboten, die eigene Muttersprache zu sprechen. Heute ist Katalan Landessprache, heute wird sie wieder anerkannt als die Muttersprache; die Kinder lernen Spanisch als erste Fremdsprache in der Schule. Die Katalanen haben das bewirkt durch friedliche Mittel, kein Schuss ist gefallen. Sie haben einfach in Ruhe, oft in den eigenen vier Wänden ihre Sprache weitergesprochen, heimlich ihre Tänze getanzt, und sie haben es erreicht durch einen tiefen Glauben an den Frieden und an friedliche Mittel zur Veränderung der Verhältnisse. So sagte der Pfarrer: "Wir können heute mit großen Glück konstatieren, dass ich Ihnen das Wort Gottes aus einer katalanischen Bibel vorlesen darf und auch in unserer Landessprache predigen kann." Und da am nächsten Tag der katalanische Nationalfeiertag war, hat er den Menschen allein mit dieser Aussage eine große Freude gemacht.

Wenn wir solche Pastoren haben wie diesen Mann, wenn es Menschen - ob evangelisch, katholisch oder andersgläubig - gibt, die Verständnis füreinander haben, die bereit sind, voneinander zu lernen, dann existiert wirklich lebendige und gelebte Ökumene; dann nehmen wir das Kreuz auf uns, auch das der anderen Geschwister, die unter anderen Glaubens- und Lebensvoraussetzungen, in ganz anderen Regio-nen dieser Welt leben. Denn was würde es uns helfen, wenn wir die ganze Welt gewinnen und nur immer wir Recht haben wollen, - unsere Seele würden wir verlieren. Es bleibt die lebendige Erinnerung, wie wir uns während des Gottesdienstes umarmten, die Hände reichten; der Pfarrer nahm mich in den Arm und sagte mir: "Carlos, es una buena cosa." Einfach dieses Wort zu hören: Es ist schön. Es ist ein großes Glück, das man dann im Herzen hat. Es entstehen unerwartete Zusammenhänge, Kontakte: Während des gemeinsam veranstalteten ökumenischen Gottes-dienstes in der katholischen Kirche in Nordspanien meldeten sich Katalaninnen zu Wort, die in Deutschland die Frauen besuchen wollten, die sie zunächst nur flüchtig kennen gelernt haben. Neue Schritte, die neue Spuren verursachen, aber die alten werden in der neuen Zeit und in den neu geöffneten Räumen nie verwischt werden.

Predigtauszug

Markus 8,34: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.

"Nehme sein Kreuz" auf sich, nicht "mein Kreuz", hat Jesus gesagt. Das nämlich wäre nun doch zu schwer für uns. Jeder nehme also sein Kreuz auf sich, das heißt: Wir sollen das Leid, dass wir in uns spüren, und dass wir vor allen Dingen bei den anderen Menschen verspüren, auf uns nehmen. Wir sollen da sein für andere und es uns nicht leicht machen im Leben. Wie verhöhnen wir uns selbst und das Leben mit aufgesetzten Als-Ob-Gesichtern, so als ob alles gut wäre? So wie es uns in der Fernsehreklame vorgeführt wird, wo die Coca-Cola-Jugend munter herumläuft und man denkt: "Ach, was sind die alle kernig, gesund und munter." Das ist die Unwahrheit. Die Wahrheit ist: Es gibt Licht und Schatten, Glück und Leid, und wir leben nicht in einem Paradies. Wer ist denn unter uns, der sagen könnte: "Ich bin ein vollkommen glücklicher und gesunder Mensch?" Ich bin es nicht, niemand von uns. Wir haben alle unsere Schattenseiten, unser Leid, unsere Traurigkeit, unsere Ängste; Menschen haben wir verloren, manche von uns sind krank, irgendwann werden wir gewiss auch alle mal krank. Alles das gehört zu unserem Leben. Aber es gehört eben auch zu unserem Leben, dass wir die tröstenden Worte und die tröstenden Hände des anderen Menschen spüren: Jeder trage sein Kreuz und helfe dem anderen, es mitzutragen. In meiner Heimat existiert ein Wort, das lautet: "Jedes Haus hat sein Kreuz". Ich merke am Lächeln einiger von Ihnen, dass dieses Wort auf Spanisch auch so oder ähnlich existiert. Aber jedes Haus hat auch seinen Jesus Christus, einen Gott, der unsichtbar ist, aber sich in der Weise offenbart hat in Christus. Wir haben einen an unserer Seite, "unseren Companiero", unseren Freund...

"Was hülfe es dem Menschen, wenn der die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele. Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?" (Markus 8,36-37). Mit wie viel Geld denn, womit wollen wir das bezahlen, die Seele, das Himmelreich, die Nähe zu Gott. Die Aussage im Psalm 73: "Du nimmst mich am Ende mit Ehren an", wie viel Millionen ist uns das wert? Diese Liebe ist unbezahlbar, und sie ist das größte Glück, das wir auf Erden haben und in Jesus Christus gefunden haben. Darum haben wir eine Kirche. Leider hat sich - wie wir Menschen so sind - die Kirche auch zerstritten. Wir haben eben eine katholische und eine evangelische Kirche, und manchmal streiten wir uns auch noch untereinander in den eigenen Reihen. Aber die großen Kirchen haben sich auch einander angenähert. Wir haben die Ökumene, was soviel wie "ein Haus" heißt. Ich darf hier predigen in einer katholischen Kirche im Ausland, wir dürfen hier singen...Die Öffnung des Kirchen-Raums geschieht genau hier und jetzt, völlig unabhängig aller Denkverengung der Obrigkeit. Mit dieser lokalen Öffnung entstehen die Voraussetzungen einer universalen Vernetzung mit dem Geist, "der weht, wo er will".