"Ach, wollt ihr weiter schlafen
und ruhen?"

Predigt zur Konfirmation am Palmsonntag 2001

 

Im Evangelium nach Markus, Kapitel 14, Vers 41, finden wir die Worte Jesu, nachdem er zum dritten Mal zu den Jüngern kam und sie schlafend im Garten Gethsemane vorfand: "Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Es ist genug, die Stunde ist gekommen."

Liebe Gemeinde,

liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,

das, was uns innerlich bewegt, sind, so meine ich, die Freundschaft und die Nähe zu anderen Menschen. Und das ist es auch, was die Menschen bewegt hat zu Jesu Zeiten. Was für eine Geschichte, aus welcher Armut geboren hinein in eine Welt, damals wie heute voller Unrecht und Krieg! Die Großmacht Rom herrschte. Jesus wollte nur eines, er wollte die Menschen verbinden, hin zu seinem Gott, unserem Gott, dem Vater, dem Schöpfer aller Dinge, und verbinden untereinander. Das war sein Anliegen. Und dann kamen viele Menschen zu ihm - viele aus einfachen Verhältnissen, Menschen, die ihre Berufe sogar aufgaben. Wir hören von Fischern, von Handwerkern, von Leuten, die mit ihm gingen, mit ihm zogen, die förmlich ganz neue Berufe erlernten, vor allen Dingen lernten, wie man auf Menschen zuging, auf sie einging, mit ihnen umging. Sie vermochten Menschen zu heilen, hatten dies von Jesus gelernt - Menschen zu heilen von ihren Gebrechen, von ihren körperlichen und seelischen Krankheiten.

Es wurde eine wunderbare Bewegung, die Menschen spürten: Wie aus dem Nichts entsteht Neues, entsteht Gemeinschaft. Wir können Dinge hinter uns lassen. Menschen, die sich versündigt hatten, konnten sagen: "Wir stehen auf!" - wie der verlorene Sohn, der sich damals bei den Schweinen wiederfand, ganz tief unten, dann aufstehen konnte - in der alten griechischen Bibel heißt "aufstehen" auch "auferstehen" - aufstehen, zurückgehen und zurückfinden konnte zu seinem guten familiären Ursprung. Eine wunderbare Bewegung - Menschen, die zusammen waren, die im Freien einfach übernachteten, morgens aufwachten in der Natur und wussten: Wir haben wieder etwas vor uns, irgendetwas Neues kommt, uns werden Menschen begegnen, die uns brauchen, unsere Hilfe vor allem, und wir haben einen in unserer Mitte, der hat sich erwiesen als ein wunderbarer Heiland, als jemand, dem Gott so nahe ist, worin sich Gott so verwirklicht, so geoffenbart hat, dass wir ganz ruhig sein können; denn alles wird gut, die Liebe Gottes kommt zu einer menschlichen, zu einer wunderbaren Entfaltung. Alles wird gut!

Und dann jene Stunden, gleich nach dem Abendmahl - wir haben gestern Abendmahl miteinander gefeiert - das Abendmahl, eingesetzt von Jesus, das er mit seinen Freunden zusammen gefeiert hat als das Liebesmahl: "Wir sind hier zusammen, brechen das Brot, mein Leib für euch, der Wein, neuer Bund in meinem Blut." Alles erschien damals friedlich und gesichert; aber doch war das Ganze bereits überschattet vom drohenden Verrat. Irgendetwas würde passieren, irgendetwas lag in der Luft. Jesus spürte es, wusste es. Die Menschen un ihn herum, sie fragten zweifelnd: "Ich, bin ich es? Das kann nicht sein!" Und Petrus, der "Fels", wie Jesus ihn nannte, rief laut aus: "Ich doch nicht, nie würde ich dich verleugnen, eher gehe ich für dich durchs Feuer!" Aber: "Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben, du, der Fels." Und Jesus betete im Garten Gethsemane, dass diese Stunde an ihm vorübergehen möge. "Meine Seele ist betrübt bis an den Tod." Und zu seinen Freunden sagte er: "Bleibt hier, bleibt hier und wacht, seid doch jetzt wach mit mir, jetzt wenigstens in dieser schlimmen Stunde!" Und was taten die Freunde? Sie schliefen! Er musste sich verraten fühlen, allein gelassen, verlassen, einsam - gerade in den Momenten, wo man die Freunde so dringend gebraucht hätte! Kennt ihr das? Wenn man sich allein gelassen fühlt, verraten, verleugnet? Kennen Sie das? Wir haben das mehr oder weniger alle schon erlebt, was es bedeutet, wenn wir auf einmal allein gelassen sind, uns einsam fühlen, der Boden unter unseren Füßen förmlich weggezogen wird. Taumelnd hören wir uns sagen: "Was können wir bloß tun, so einsam und verlassen?"

Mit dem zweiten Jahrgang der Konfirmandinnen und Konfirmanden haben wir eine Übung in Gruppen gemacht. Ihre Aufgabe war es, zu den Themen Verlassenheit, Verleugnung und Verrat Geschichten zu erzählen. Als Beispiel zum Thema Verrat erzählten sie, dass ein Mädchen einer Freundin ein Geheimnis anvertraut hatte. Es hatte der Freundin gestanden, dass es in jemanden verliebt sei. "Ich sage dir auch, wer es ist." Am nächsten Tag in der Schule stand groß an der Tafel der Name des Mädchens und der des heimlich geliebten Freundes. Es war ja nicht nur die Schmach, was dort an der Tafel stand; das Schlimme, was dem betroffenen Mädchen förmlich das Herz zerrissen hatte, war: "Wie konnte sie nur, meine beste Freundin, wie konnte sie es verraten?" Mag sein, dass das in unseren Augen als Erwachsene eine Kleinigkeit ist, aber für ein Mädchen in eurem Alter ist das überhaupt keine Kleinigkeit, vielleicht zum ersten Mal im Leben zu erfahren, dass das, was man an Verbindung hat, was man als Geheimnis teilt mit der besten Freundin, verraten wird. Wie hat sich wohl Jesus gefühlt? "Mein Freund, meine Freundin haben mich verraten, verlassen, mein Freund verleugnet mich, will nichts mehr mit mir zu tun haben."

Eine andere Gruppe der Konfirmanden hat eine kleine Geschichte aufgeschrieben. Der Text:

"Es gab ein Mädchen, das hieß Anna. Als kleines Kind spielte ich immer mit ihr im Kindergarten. Als die Eltern sich gestritten hatten, kam sie in ein Waisenhaus. Als mich mein bester Freund nach fünf Jahren fragte, ob ich mit ihr befreundet sei, sagte ich, dass ich sie nicht kennen würde, weil ich mich schämte. Anna ist nur ein Waisenkind."

Andere schrieben:

"Verlassen: Meine Eltern saßen im Wohnzimmer und stritten sich mal wieder! Er hat wieder getrunken. Olaf (mein Vater) schlug ihr ins Gesicht. Sie schrieen sich so laut an, dass in der Nachbarschaft alle Lichter angingen. Dann ging meine Mutter ins Schlafzimmer, packte seine Sachen und schmiss ihn raus. Meine Mutter versprach, dass er wiederkommt. Doch er kam nicht. Da fühlte ich mich verlassen."

Es sind die Gedanken unserer Kinder. Es sind gewiss auch unsere Gedanken, unsere Ängste. Ich glaube, wenn wir uns so hineinversetzen in die Ängste unserer Kinder, dann können wir noch am ehesten nachempfinden, was in Jesus vorging in diesen Momenten im Garten Gethsemane, in jenem Ölgarten, wo er sich einsam und verlassen vorkam in schlimmster Not: "Was soll ich bloß tun, Gott hilf mir, verlass du mich wenigstens nicht." Und auch er rief später aus am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" - Ängste, die wir alle haben. Und auch an einem Tag wie heute, einem Festtag, bewegt uns, Sie, die Sie die Eltern, die Großeltern sind, vielleicht noch eher als die Jugendlichen - bewegt uns die Frage: Was wird werden, wie geht das Leben weiter, was ist der Sinn im Leben, wohin treiben wir, wohin werden wir gehen, wohin müssen wir gehen, was wollen wir tun, was können wir tun, was geschieht mit unseren Kindern? Aber etwas Hoffnungsvolles habe ich doch wahrgenommen in diesen kleinen Geschichten - ich habe wahrgenommen, dass nicht eine Konfirmandin, nicht ein Konfirmand zum Thema Verlassenheit beispielsweise geschrieben hat: "Mein Computer hat mich verlassen, weil er abgestürzt ist." Oder: "Mein Geld hat mich verlassen." Oder: "Mein Glück hat mich verlassen." Im Gegenteil: Es bewegen sie tiefsinnige Verlassenheitsprobleme, die sie in einer Weise beschreiben, die einem selber sehr nahe geht.

Es hat etwas zu tun mit dieser Geschichte von Jesus. Es hat etwas damit zu tun, wie damals die Jüngerinnen und Jünger, als Jesus seinen schweren Weg gehen mußte und man ihn wirklich ermordete, als das geschah, was sie nicht geglaubt hatten, dass es je passieren würde, auf einmal dastanden mit leeren Händen, fertig, alle, ausgelaugt: "Man hat uns die ganze Liebe weggenommen!" Wo ist sie, die Liebe Gottes, die sich doch so offenbaren sollte und sich so verwirklicht hat in Jesus Christus, wo ist sie? Leer stehen wir da. Alles weg, leer, einsam, verlassen: "Wo bist du, Gott? Wo sind deine Versprechen? Wo ist das, was sich angekündigt und schon verwirklicht hat in diesem Jesus von Nazareth?"

Und sie rannten durcheinander. Wir rannten weg in alle Himmelsrichtungen - Nächte, Tage - drei. Und dann waren es die Frauen unter uns, die sich als Erste wieder ein Herz fassten und hingingen am Morgen jenes Tages, den wir später Ostern nannten, und ein leeres Grab fanden. Irgendetwas war da, was sagte: "Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Hat er euch nicht gesagt, er gehe euch voran? Geht nach Galiläa, dorthin, wo ihr all das mit ihm erlebt habt, die ganze Liebe, die Freundschaft, die Heilungen, die Heilkraft, das Gute in eurem Leben, geht da wieder hin, wo er lebt!" Und sie gingen hin. Sie spürten: Gott hat nicht losgelassen, Gott hat ihn wieder zum Leben erweckt; es ist der Aufstand der Liebe, diese Auferstehung, Gottes Liebe lebt in Jesus Christus, Jesus Christus lebt, ist bei uns, so dass wir heute, runde 2000 Jahre später, im kleinen Schüttorf in der großen Welt hier so zusammen sind und sagen können: "Du bist da! Du bist mitten unter uns, lebst, deine Liebe ist nicht zu kreuzigen, nicht kaputtzukriegen." Und mit dieser wunderbaren Auferstehung steht all das wieder auf, was uns versöhnt mit Gott, trotz aller Schuld, trotz allem, was wir ihm und der Liebe angetan haben, trotz unserer Einsamkeit und unserer Verlassenheit, trotz unseres Verrats und unserer Verleugnung. Er ist da und nimmt uns bei der Hand, in seinen Schutz, in seinen Trost. In seiner Versöhnung dürfen wir wieder leben, ein Leben in einer versöhnten Liebe.

 

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,

ich wende mich einmal an euch: Ich denke, was kann es Schöneres geben, als in Momenten - und die wird es noch oft geben in eurem Leben -, wo ihr euch verraten fühlt, einsam, verzweifelt seid, euch im Dunkeln wähnt, zu wissen: Einer hat das alles durchlitten, aber der lebt, ist an unserer Seite. Letztlich kann uns wirklich nichts passieren, und wir können im Stillen einfach sagen: "Lieber Herr Jesus, du weißt Bescheid, du kennst das alles, nun sei du auch da, sei da! Weil du, Gott, mitgelitten hast - mitgelitten in Jesus Christus, kennst du mich, kennst mich in meiner Freude an so einem Tage wie heute, aber auch in meinem Leid. Ich bin einfach nur ein Mensch mit Licht und Schatten, du kennst mein Glück, aber eben auch dessen Schattenseite. Sei du da, geh du mit mir. Lass mich suchen nach der Welt, einer Welt des Friedens, der Gemeinschaft und der Liebe." In dieser Suche ist einer jetzt immer mit euch, an eurer Seite, nämlich der, der einmal gesagt hat: "In der Welt habt ihr Angst, aber ich habe die Welt überwunden." Nie seid ihr allein, ihr habt immer das Herz der Liebe, das euch Gott schenkt. Er ist bei euch, an eurer Seite und soll es immer sein. Das wünschen wir alle euch an diesem heutigen Tag. Denn dies ist das Wichtigste für unser aller Leben: Wir sind nicht allein! Amen.

 

 

Karl W. ter Horst